Almanach der Begehrlichkeiten: Armbanduhren

Ich habe ein Problem. Ich mag Armbanduhren. Das ist aus mehreren Gründen ungünstig: Einerseits weil es weder einen Endpunkt noch eine Begrenzung dessen gibt, was man für so einen Apparat ausgeben kann. Im Raum wabert die absurde Fabel der „Grail Watch“, der Uhr, die die Lust auf mehr endlich befriedet, aber das ist natürlich das vom Wahnwitz geschüttelte Gelalle von Süchtigen. Es gibt genauso wenig die Uhr, die das Sammelfieber beendet, wie es den letzten Schuss gibt, der so gut ist, dass man es endlich sein lassen kann. Es endet, wie alles endet, wenn das Licht ausgeht. Andererseits schlecht ist, dass ich eigentlich gegen die gemeine Sammelidiotie immun bin. Ich habe viele Dinge – mutmaßlich sogar zu viele – und das auch gerne, aber ich sammele nichts um der Sammlung willen. Das ganze Konzept hatte für mich noch nie einen erkennbaren Sinn, Dinge müssen einen Zweck haben. An und für sich halte ich das Massieren von alten Blechschildern, Ü-Ei-Figuren oder Gartenzwergen für die publikumswirksame Vergeilung des hauptsächlich männlichen Imponiertriebs – und zwar derart, dass er am Ende das genaue Gegenteil des zugrunde liegenden Strebens erwirkt, nämlich das krachende Ausbleiben jeglichen Geschlechtsverkehrs. Yet – here we are.

Natürlich braucht niemand mehr wirklich überhaupt eine Armbanduhr. Der ursprüngliche Sinn des Zeitmessers hat sich mit der ubiqutären Verbreitung von Smart Phones ziemlich durchgreifend erledigt. Zwar ist mein persönlicher Eindruck, dass ich mit einer Armbanduhr merklich besser zeitlich orientiert bin, weil der kurze Blick darauf doch viel öfter und niederschwelliger passiert als dass man sein Telefon aus der Tasche holt und dass dies den kuriosen Nebeneffekt hat, dass sich schöne Freizeitaktivitäten länger anfühlen, weil das Hirn Zeitfixpunkte bekommt, an denen es sich festhalten kann – aber selbst das fasst weithin sichtbar am Kern der Sache vorbei. Denn als funktionierende Armbanduhr tut es auch eine Flik Flak aus dem Kaugummiautomaten. Wo die Notwendigkeit schon lediglich fragwürdig ist, so ist der Luxus der Sache in null von fünf Dimensionen zu rechtfertigen. Es ist halt – schön. Der Mann hat ja sonst keine Accessoires und all das. Sie wissen schon. Hilflose Geräusche dümmlichen Strampelns, die unangenehm ähnlich klingen wie wenn man die Modell-Eisenbahn im Keller zugeben muss.
Aber um es mit Jürgen von der Lippe zu sagen: Wo wir schon mal da sind, da bleiben wir auch hier. Ich kann nichts dagegen tun, dass ich gerne tausende kleiner tickender Schnallwecker besitzen möchte. Ich kann mich allerdings dagegen verwehren, mehr davon zu kaufen. Um den Drang zu sublimieren, bleibt mir aber natürlich, die Seuche zu teilen. Am besten im Internet, damit es möglichst viele trifft. Das Konzept von Bestenlisten, mit denen sich ganze Youtube-Channel halten, ist wirklich aufregend bescheuert. Zu behaupten, eine Rolex wäre ihre zehntausend Euro wert, der guten Verarbeitung und Zuverlässigkeit wegen, lässt schreiendes Gelächter aus beispielsweise der Seiko-Ecke aufwallen. Sowas geht nur gut, wenn der gesunde Menschenverstand den Raum komplett verlassen hat. Buchstäblich alle Uhren ab einer sehr niedrigen Schwelle sind gut verarbeitet und zuverlässig. So weit sind wir einfach mit der Qualität der Massenfertigung. Alles weitere ist Meinung, Gefühl oder in vielen Fällen haareziehschreiender Content um des Contents Willen. Entsprechend hat die Liste, mit der ich gleich um die Ecke biegen werde, keinen qualitativen Anspruch. Sie soll der Dinge nur zwei tun:
Erstens und wichtigstens ist sie als Umreißung meiner Ästhetik anhand von Eckpunkten zu sehen. Zweitens mag sie inspirieren, lies: Die Sucht verbreiten und befleißigen. Nicht unähnlich wie die erste Liste dieser Art, die ich vor gerade mal elf Jahren in die Welt gestellt habe.
1. The Grail Watch: Bulgari Octo Finissimo Automatic Titan / Rosé Gold


Es gibt wie gesagt keine Grail Watch. Meine ist die Octo Finissimo Referenz 103137 des römischen Schmuckherstellers Bulgari. Nachdem die Uhrensparte, Bulgari Haute Horlogerie mit Sitz im schweizerischen Neuenburg, fast 30 Jahre lang recht träge in der Marmelade gepopelt hatte und für seine Versuche an der Uhrenfront von Industrie und Kennern belächelt worden war, krachte es im Jahre des Herrn 2014 laut vernehmlich seitens der Alpen. Fachleute erkannten es als das Geräusch, das entsteht, wenn jemand etwas außergewöhnlich ernst meint. Was folgte, war eine Serie von acht Weltrekorden, die in der Geschichte der Uhrmacherei beispiellos ist. 2014 kam die mit 5 mm dünnste Tourbillon Uhr auf den Markt, 2016 folgte der dünnste Minute Repeater (6,85 mm), 2017 die dünnste Automatikuhr (5,15 mm), 2018 die dünnste automatische Tourbillon Uhr (3,95 mm), 2019 die dünnste Chronographie GMT Automatic (6,9 mm) und als 2021 dann auch noch der dünnsten Perpetual Calender (5 mm) auf den Markt kam, dachten alle, sie könnten durchatmen, weil eigentlich keine Komplikationen mehr übrig waren. Die Damen und Herren im Dienste des römischen V waren aber noch heiß und liefern sich seitdem mit dem Rest der Industrie einen Grabenkampf um die dünnste Uhr überhaupt. Just dieses Jahr holten sie sich den Rekord mit der nur 1,7 mm dünnen Octo Finissimo Ultra II zurück. Man kommt nicht umhin als beeindruckt zu sein.


Jetzt ist beeindrukt nicht das gleiche wie erregt. Viel wichtiger ist: Die Octo Finissimo ist hochveredelter Sex. Natürlich geht das Design wie ungefähr alle hypererfolgreichen Uhren auf Gérald Genta zurück, tatsächlich ist es dem ursprünglichen Octo Design aber mehr entfernt entlehnt als alles andere. Wirklich verantwortlich für die unwahrscheinliche aber irrsinnig attraktive Anhäufung unzähliger Kanten und Schrägen zeichnet Bulgaris Creative Director Fabrizio Buonamassa Stigliani und den möchte man dafür im Prinzip direkt mit Orden überhängen und vielleicht ein bisschen heiraten. Denn eines fehlt der Uhrenwelt merklich: Wirkliche Innovation. Und das meint Innovation, die nicht nur anders ist, um anders zu sein, sondern die wirklich Gebrauchswert und Attraktivität steigert. Wilde Klaviere in absonderlichen Formen und Zeitanzeigen, die ihre Deutung zu einer eigenen Fachdisziplin oder zu Quälerei machen, gibt es wie Sand am Meer. In der realen Welt tragen diese nasenhupenden Clowns der Uhrenwelt nur Menschen, die gefärbte Brillen für charakterbildend und Servicepersonal für tretbar halten. Die Octo Finissimo dagegen ist wirklich neu, wirklich erotisch und trägt sich unglaublich bequem. Insbesondere die Titanversion ist saumäßig leicht und angenehm am Arm, wobei sie anders als andere ultra thin Uhren nicht den konstanten Eindruck der extremen Zerbrechlichkeit vermittelt. Es gibt etliche Varianten, aber die höchste Form erreicht meines Erachtens die Kombination aus Titan-Case mit Zeigern und Indices aus Rosé-Gold. Und für nur 18.000€ kann sie einem auch gehören. Also nicht. Mein Herz wird das nie verschmerzen.
2. Grand Seiko SBGA413 Shunbun


In der Welt der Uhrenenthusiasmus-Erkrankten ist es ein offenes Geheimnis, dass die Seiko-Tochter Grand Seiko Uhren auf einem irrsinnigen handwerklichen Niveau herstellt, das mit vielfach teureren Konkurrenzprodukten mithalten kann. Irgendwie leidet die Firma immer noch unter dem Unterklasse-Image der Konzernmutter, was deutlich mehr über die Engstirnigkeit der Menschen sagt, als über die Qualität der Uhren. Ich habe ein Herz für japanisches Handwerk und die dahinter stehende Philosophie. Die Tatsache, dass die Uhrmacher im pittoresken Watch Studio Shizukuishi es schaffen, dass ihre Uhren aussehen, als seien nur sie allein Objekte in Ultra HD in einer sonst eher flaufahlen 4:3 Welt, ist ein Zaubertrick, der einem so schnell nicht wieder aus dem Kopf geht. Aus dieser Manufaktur kommen direkt etliche der schönsten strukturierten Ziffernblätter der Welt. Und ich bekenne offen, dass ich die Chimäre aus mechanischer und quarzgesteuerter Uhr, die das innovative Spring Drive System ist, genial und spektakulär finde. Wer mal eine Viertelstunde Zeit hat, sollte sich mal eine Auseinandererklärung auf Youtube anschauen, ich verspreche Faszination.

Also kurz: Ich hätte gerne ein Stück vom Kuchen – und zwar, bevor zu vielen Leuten klar wird, dass die Uhren das dreifache kosten müssten. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich sowohl die Silber mit blauen Zeigern Ästhetik der White Birch (SGLA009) als auch die kirschblütige Herrlichkeit der Shunbun mein Eigen nennen. Beide sind um 5000€ auf dem Gebrauchtmarkt zu haben. Da ich knapp bei Kasse bin, verzichte ich auf die White Birch, und zwar direkt bevor ich auf die Shunbun auch verzichte.
3. Patek Phillipe Calatrava 6119R-001




So albern es ist, für eine einfache 3-Zeiger-Uhr 32 große Scheine anzuzünden, so sehr ist im großen Wald der goldenen Dress Watches noch keine andere dabei gewesen, die diese schlichte Ästhetik so perfekt auf den Punkt gebracht hat, wie die 6119R Iteration der berühmten Calatrava. Keine Frage: Ich müsste schon wirklich verzweifelt sein in der Frage, wie ich mein Geld noch ausgeben könnte, um auch nur darüber nachzudenken, eine Patek zu kaufen. Aber wenn ich eine geschenkt bekäme und ich dürfte sie nicht verkaufen, dann würde ich sie mit größter Freude tragen. Also, direkt nachdem ich jeden Trick versucht hätte, sie zu verkaufen.
4. J.N. Shapiro P0.1 Infinity Guilloche Meteorite

Was passiert, wenn man einen der talentiersten Uhrmacher der Neuzeit mit einem der faszinierensten Materialien und einer fast ausgestorbenen Bearbeitungstechnik kombiniert? Wenn man Glück hat, die P0.1 von Joshua Shapiro. Der amerikanische Spezialist für Guillochierung produziert an von ihm selbst liebevoll restaurierten Linear-, Wellen- und Rundzugguillochiermaschinen Ziffernblätter von einzigartiger Schönheit.


Shapiros Gefühl für Formen erstreckt sich aber auch auf das Design der restlichen Uhr, weshalb eigentlich nichts in seiner Kollektion irgendwas anderes als traumhaft schön und formvollendet ist. Der Gipfel war meines Erachtens aber die Meteorit Uhr aus einer seiner ersten Serien. Es ist ein außergewöhnliches Gefühl, ein Stück Handwerkskunst zu besitzen, das in dieser Form nur eine Handvoll Menschen auf der Welt herstellen könnten. Ich werde dieses Gefühl in diesem Fall nie haben. Nicht nur ist die Sache mit dem Geld – die aktuelle Serie fängt bei 70k an -, die Meteorite war auch auf 10 Stück limitiert und damit ist das Thema dann auch gegessen. Ein Glück. Ich kann allerdings die beiden Vorträge von Joshua bei der Horological Society of New York nur jedem ans Herz legen (Engine Turning und American Watchmaking).
5. Vacheron Constantin 1921


Als ich die 1921 vor einigen Jahren das erste Mal in einem Video gesehen habe, stolperten Belächeln, Verwirrung und übermannende Begierde in wenigen Momenten übereinander. Die Uhr, deren Vorbild aufgrund ihrer geplanten Verwendung als Fahreruhr 45° schräg in einem rechteckigen Gehäuse sitzt, hat fuderweise von diesem ephemeren je ne sais quoi, das alle Firmen die ganze Zeit wie Blitze in der Flasche zu fangen suchen. Die Uhr ist extrem dünn und in jeder Raumrichtung tailliert, sodass sie quasi aus jeder Perspektive perfekt aussieht. Es gibt sie in zwei Größen und, damit sie auch schön teuer ist, nur in Weiß- oder Gelbgold. Die Materialwahl ist in dieser Hinsicht extrem erfolgreich – die 1921 kostet 36 bis 44 Kiloeuro, je nach Größe. Wenn man mich in der Vacheron Auslage alleine lassen würde, wäre die Weißgoldvariante in 40 mm meine Wahl. Ich vermute, man bekommt einen Bugatti Typ 59 gratis dazu. Alles andere wäre albern.
6. Jaeger-LeCoultre Master Ultra Thin Moon Phase Stainless / Blue QI368480

Jaeger LeCoultre ist nicht nur bekannt als „The Watchmakers Watchmaker“, da sie die längste Zeit für alle Größen am Markt die schwierigsten und aufwändigsten Arbeiten durchführten, weil ihr Niveau so albern hoch und ihr Selbstverständnis so kompromisslos ist, sie sind auch chronisch glücklos. Alle Welt bewundert sie für ihre Leistungen und niemand kauft ihre Uhren. Sie sollten nach allem Sinn und Verstand mit Patek, Vacheron und AP immer in einem Atemzug genannt werden, aber trotz einer meiner Meinung nach extrem geschmackssicheren Formensprache blieb der Erfolg der Big Three für JC aus. Für mich persönlich haben sie aber auch noch die fragwürdige Ehre, für meine Uhrenbegeisterung verantwortlich zu sein. Der Kristallisationspunkt war die Auslage des Juweliers Freisfeld in der münsteraner Innenstadt circa 2004, als meine unschuldigen Augen an einer Master Ultra Thin Reserve de Marche hängen blieben. Es zog mich in den folgenden Monaten und Jahren immer wieder zu diesem Schaufenster, wo ich die wenigen Uhren in der Auslage in und auswendig kennen lernte. Schließlich bestellte ich mir den Katalog, in dem ich teils Tage am Stück abtauchte.

Für mich stand immer fest, dass ich eines Tages eine Jaeger LeCoultre besitzen würde. 2021 machte ich ich dieses Versprechen wahr und kaufte eine Master Ultra Thin. Gebraucht, die alte Variante, die mir besser gefiel, Referenz 174.8.90.S. Die perfekte Ergänzung hierzu wäre die Ultra Thin Moon Phase mit blauem Ziffernblatt, eine einmalige Übung in schlichter Schönheit. Gerade bei Uhren liegt die Magie häufig in kleinsten Unterschieden – in diesem Fall ist es das tiefe Blau, das auf Fotos genauso aussieht wie jedes andere Blau auch und in der Realität einen hypnotischen Sog von gewaltiger Schubstärke entwickelt. Und wo wir gerade dabei sind, würde ich auch eine Reverso Duo Face Referenz Q3848422 nehmen. Und beide würde ich vermutlich genauso viel tragen wie meine Ultra Thin: Viel zu wenig. Angst essen Seele auf.
7. Longines Chronograph 6595 CH30 oder Universal Genève Compax Ref 124107

Ich habe kein großes Herz für Chronographen, aber eine Ausnahme bilden ein paar seltene Exemplare zumeist aus den 40er bis 60er Jahren. Sie müssen aus Gelbgold sein, eckige Pusher haben und genau das richtige Zifferblatt treffen. Just so. Insondere Universal Genève hat eine riesige Menge verschiedener Typen gebaut und die wenigsten bohren das richtig dicke Brett. Die Referenz 124107 wurde unter anderem für die brasilianische Luftwaffe gefertigt (ich bin genauso überrascht wie Sie, dass Brasilien Ende der 40er eine Luftwaffe hatte) und aus diesen Beständen schwimmt gelegentlich mal ein Exemplar auf den Markt. Die Longines 6595 ist jetzt nicht unbedingt viel weniger selten, auch fasst die Referenz die Farbe des Ziffernblattes nicht. Das rein in Gold, Dunkelrot und Blau gehaltene Ziffernblatt ist der wahre Jakob. Wenn man großes Glück hat, kann man gut erhaltene Exemplare zwischen fünf und zehntausend Euro bekommen. Und muss dann mit der ewigen freudigen Furcht leben, dass der nächste Druck auf den Chronometerknopf eine rumpelnde Explosion im Inneren der Uhr nach sich ziehen könnte, die quasi willkürliche Reperaturpreise über einen bringt. Falls sich überhaupt ein Uhrmacher findet, der einem diese 80 Jahre alten Chronographen reparieren kann und will. Aber man wird ja wohl noch träumen müssen.


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