Ein Offenbarungseid
Disclaimer: Dieser Artikel hat nichts mit kochen, trinken, schneiden, fliegen, oder anderen schönen Dingen zu tun. Es ist ein klassischer Rant, der am besten in pöbelesquer Stimmung genossen werden sollte.
Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich diesen Artikel schreiben soll. Da diese Zeile existiert ist es nun aber offenbar so, dass ich es schlussendlich tat. Und da sind wir auch schon beim Leitmotiv angekommen: die falsche Verwendung des Wortes offenbar durch deutschsprachige Medien. So wie oben gesehen ist es recht; ein Sachverhalt ist für jedermann leicht zu verstehen und erschließt sich auf den ersten Blick. Eigentlich nicht schwer, ist das Wort doch eigentlich ab Werk selbsterklärend – möchte man meinen.
Werfen wir mal einen Blick auf deutschsprachige „Nachrichtenportale“, allesamt stramm auf Qualität genordet und in ihrer Relevanz und Seriosität unübertrefflich. In den hohen Sphären des Journalismus ist es wohl nicht gerade en vogue bei unklaren Datenlagen, Spekulationen, oder schlichten Falschmeldungen diese klar als solche zu kennzeichnen. Daher wird hier vermehrt jener Kunstgriff angewandt, welchen ich so sehr anprangere: offenbar ist neuerdings die seriöse Form von womöglich. Es wäre kein gescheiter Rant, wenn ich nicht auch Beispiele hätte, die meinen Standpunkt untermauern:
1. SpOn
Fangen wir mal im wohl spekulativsten Ressort der Redaktion an: der Sportredaktion. Hier erfahren wir im Fußball-Transfergerüchte-Ticker am 29.05.2013 um 12:37 Uhr: „Fenerbahce Istanbul muss sich offenbar auf die Suche nach einem neuen Trainer machen.“ Der geneigte Leser nimmt also an: „Hier hat ein Trainer seine Kündigung fristgerecht eingereicht und offiziell sein ausscheiden aus dem Verein bekanntgegeben.“ Zwei Sätze später allerdings folgt die Enttäuschung und der Beleg für diesen Text: „Eine offizielle Bestätigung des Vereins steht noch aus. Für Kocaman ist es nicht der erste Rücktritt bei „Fener“. Der 48-Jährige hatte sein Amt in den vergangenen Spielzeiten bereits zweimal aufgegeben, entschied sich mit einigem Abstand dann aber doch zum Weitermachen.“
Das in einem Transfergerüchte-Ticker 4 weitere Mal das Wort offenbar in ähnlich spekulativem Kontext verwendet wird spricht entweder für einen sehr feinen Sinn für Ironie der Redakteure, oder eine sehr unterdurchschnittliche Kenntnis der deutschen Sprache.
Weiter gehts im Ressort Wirtschaft:
„Krise der Euro-Zone: EZB-Chef nährt Hoffnung auf Ende der Rezession“ In der Einleitung dieses Artikels heißt es dann: „Noch hat die Rezession die Euro-Zone fest im Griff – doch Mario Draghi prophezeit Besserung. Der Chef der Europäischen Zentralbank sieht Anzeichen für eine langsame Erholung ab Jahresende. Einen wirklichen Aufschwung erwartet offenbar aber auch er nicht.“ Was erwartet man also? Vielleicht äußerte Draghi in einem Interview Bedenken, dass die Wirtschaftsleitung der Eurozone 2014 wachsen wird? Oder der SpOn-Redakteur hat Einblicke in das Tagebuch des EZB-Chefs? Nichts dergleichen! Mario Draghi hat nur in Shanghai in einem Nebensatz dazu gemahnt trotz niedrigem Leitzins weitere Reformen voranzutreiben.
Und nun zum Flaggschiff des Sturmgeschützes der Demokratie: der Politik!
Hier ist es der of unübersichtlichen Nachrichtenlage geschuldet Artikel zu produzieren, die einem Faktencheck nicht immer standhalten können. Gerade die internationale Politik in Krisenregionen ist sehr schnelllebig, weshalb hier der Spekulation Tür und Tor geöffnet sind. Beispiel? Der Artikel „Möglicher Militärschlag: Syrien stimmt Chemiewaffenkontrolle zu„: Die Überschrift verrät bereits, hier wird munter geraten interpretiert. Und tatsächlich, bereits im ersten Absatz heißt es: „Ein amerikanischer Militärschlag gegen Syrien rückt offenbar vorerst weiter in die Ferne.“ Der Rest des Artikels dann aus Interviewfetzen, Relativierungen, und Relativierungen der Relativierungen. Oder in kurz: Keiner weiß nichts genaues.
Widmen wir uns einem abschließendem Beispiel aus dem Verlagshaus Augstein, mit dem Namen „Bürgermeisterwahl in Moskau: Putin – der große Verlierer„. Dieser Artikel zeigt, wie gut sich deutsche Journalisten in der russischen Kommunalpolitik auskennen, denn hier heißt es: „Sergej Sobjanin hat offenbar auf die üblichen Wahlfälschungen im großen Stil verzichtet und im Kreml und bei Putin darauf bestanden, dass Nawalny antreten darf.“ Merke: Jeder halbdressierte Affe weiß, dass in Russland JEDE Wahl gefälscht ist (IM GROßEN STIL!), Belege bedarf es hierfür nicht.
2. Tagesschau.de
Man möchte annehmen, dass es dem gebührenfinanzierten Journalisten einen Stich ins Herz versetzen würde, müsste er Artikel verfassen, die so spekulesque sind wie die „Royal Baby News„-Spalte der „Freizeit Revue“. Aber auch hier setzt sich der offenbare Trend (!) durch. Eine Suche nach dem Wort bring immerhin 5700 Treffer, recht gut aufgeteilt zwischen Videos und Artikeln. Hier ein paar Impressionen:
Ressort Sport: „Laut Medienberichten: Raikkönen kehrt offenbar zu Ferrari zurück„ Hier erübrigt sich der Kommentar.
Nächster Treffer: „Christopher Froome: Überflieger unter dem Mikroskop“ Das komplett vom SID übernommene Portrait des Radsportlers ist solides Journalistenhandwerk, verspielt aber seine Glaubwürdigkeit mit dem letzten Satz: „Offenbar weiterhin im Sky-Trikot, eine Vertragsverlängerung bis 2016 soll nur noch Formsache sein.“ Damit ist der Artikel zu Ende und der Leser ratlos worauf sich diese Behauptung stützt.
Ressort Wirtschaft: „Betrug beim Kurzarbeitergeld steigt offenbar massiv an„. Der Artikel führ aus, dass sich die Zahl der Hinweise (!) auf Betrug verfünffacht hat und merkt selber an: „Hinter wie vielen dieser Verdachtsfälle wirklich realer Missbrauch von Leistungen stehe, könne noch nicht gesagt werden, da es noch keine Erfahrungswerte gebe.“ Offenbarer Betrug sieht für mich anders aus.
Weiter gehts: Der Artikel „Ein Rücktritt und viele Fragen„ beschäftigt sich mit dem Suizid des Finanzvorstandes der Zürich Versicherungsgruppe und dem Rücktritt des Verwaltungsratspräsidenten Josef Ackermann: „Doch mittlerweile ist durchgesickert, dass die Gattin des Verstorbenen offenbar schwere Vorwürfe gegen Ackermann erhebt.“ Fundament für die Behauptung: „Nach Angaben der Gratiszeitung „20 Minuten“ behauptet die Witwe (…)“ So, meine Damen und Herren, sieht gebührenfinanzierter Qualitätsjournalismus aus.
Und auch hier, ein Blick zum Ressort Politik: „Israel sieht sich bloßgestellt„ verkündet die Artikelüberschrift und liefert gleich im ersten Satz die Begründung: „Israel hat offenbar erneut ein Ziel in Syrien angegriffen.“ Die Bloßstellung besteht darin, dass eine amerikanische Zeitung dies behauptet und Israel dies bestreitet. In dubio pro spekulatius.
Und zum Schluss: „Aktivisten berichten von vielen Toten„, einem Artikel, der sich ebenfalls mit einem Luftangriff in Syrien befasst. Die Zwischenüberschrift lässt uns wissen: „Offenbar 42 Soldaten getötet“ Quelle: „Die oppositionsnahe Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London“. Ach so.
3. taz.de
Zum Abschluss dieses Ausfluges durch die Medienlandschaft soll die taz untersucht werden. In §2, Abs.6 der Redaktionsstatuten heißt es: „Die Zeitung ist der wahrheitsgetreuen Berichterstattung verpflichtet (…)“. Damit verbietet sich ja per Selbstverständnis die pseudoseriöse Berichterstattung in Form von Spekulation mit Fassade.
Alsdann: Die Sportredaktion!
Ein Kommentar zur Olympiaeröffnung 2012 mit dem Titel „Horrorshow am Mikrofon„ weiß interessantes über Wolf-Dieter Poschmann zu berichten: „Poschmann, man hörte es heraus, hat sich auf diese Show offenbar keine einzige Minute vorbereitet.“
Und ein Artikel über den verstorbenen Surfer Andy Irons „Ein bodenloser Rausch„: „Schon bald kam offenbar auch das Schmerzmittel Oxycodon dazu (…) sagt einer aus dem Umkreis der Irons-Familie.“ Solide.
Überblende, Wirtschaft:
„Mehdorn fasst sich an die Nase„: „Seit 106 Tagen amtiert Mehdorn nun, und offenbar kehrt zumindest bei den Wirtschaftsvertretern der Stadt allmählich die Hoffnung zurück, mit ihm könne es doch noch etwas werden mit dem neuen Großflughafen BER.“ Leider wird im weiteren Artikel nicht ein „Wirtschaftsvertreter der Stadt“ erwähnt.
„Windows 8 verschärft Computerkrise„: „Microsoft selbst plant offenbar, mit einer Ausweitung seines Tablet-Angebots zu reagieren.“ Quelle: „…hieß es unter Berufung auf informierte Personen.“
Lächeln, winken, zum Abschluss den Kopf in die Politik stecken:
„Nicht so nah, Angela!„: „Mehr als diese Sätze hat man ihm offenbar nicht zugetraut.“ Ist der letzte Satz des Artikels, bezieht sich auf einen Werbespot mit Peer Steinbrück.
Und zum Abschluss: „Jetzt auch noch ein Flugzeug„: „Grund dafür seien offenbar Fehler im Kaufvertrag für den Truppentransporter, der 2003 von der rot-grünen Bundesregierung abgeschlossen wurde, schreibt das Nachrichtenmagazin unter Berufung auf ihm vorliegende geheime Unterlagen.“ Jep, that just happened. Geheime Unterlagen. Sehr offenbar.
Schluss:
Sie haben eine Meinung, einen dünnen Artikel ohne Fakten und voller Spekulation, oder einfach keine Ahnung von Zusammenhängen? Verleihen Sie Ihrem Konvolut die nötige Substanz, indem Sie offenbar vorgeben zu wissen was Sie tun!
15. September 2013 um 23:01
Wundervoll. Der Herr neigt sein Haupt.