So you have a child – Bedienungsanleitung für Kinder von einem alleinstehenden Arzt und Mitmenschen
Lebensratgeber liegen voll im Trend. Und wie unsere durchlauchten Leser wissen, ist das bei mir alles, was zählt – im Trend liegen, der Mode folgen, hip sein. Das ist elaboriertes Geschwafel für: Meine wahren Motive bleiben im Halbdunkel – vielleicht habe ich ein paar Dinge zu viel erlebt, vielleicht will ich nur ein Memento für spätere Zeiten. Es mangelt fraglos nicht an Gründen für diese paar Zeilen zu einem der wichtigsten Themen, die das Leben zu bieten hat: Wie macht man mit Kind?
Um die Kritik vorweg zu nehmen: Ich habe keine Kinder. Ich habe keine Kinder in Aussicht. Ich bin alleinstehend. Und die generelle Qualität meines Charakters ist absolut zweifelhaft, denn ich mag in letzter Zeit teilweise sogar Countrymusik. Ich bin allerdings auch Arzt – zwar nicht in der Kinderklinik, aber in der Abteilung mit einem der größten Knotenpunkte zur Kinderklinik und deshalb viel mit Kindern und schlimmer: ihren Eltern konfrontiert. Ich habe als außenstehender Mitmensch den großen Vorteil, keine Betriebsblindheit zu entwickeln, sondern kann objektiv der Sache etwas zu nahe treten. Außerdem habe ich einen Sprengstoffschein und viele Bücher in meinem Regal fast fertig ausgemalt. Ich halte mich also wenigstens für mittelmäßig qualifiziert, die folgenden Zeilen gen Blatt zu lassen. Bitte verzeihen Sie den apodiktischen Tonfall von weit oben herab; er scheint mir angemessener als die ebenfalls unperfekten Alternativen.
Genauso wie Patienten erstaunlich viel Arzt vertragen, vertragen Kinder erstaunlich viel Eltern. Man kann verschiedenste bunte Wege mit den kleinen Rackern verfolgen, folgende Punkte in der Benutzung des Gesamtkindes sind aber zu beachten:
1. Kinder gehören geimpft. Die Leute in der Ständigen Impfkommission sind deutlich intelligenter als Sie und ich und machen einen wirklich guten Job. Sie verstehen davon mehr als Ihre Freundin Jenny, die letztens etwas von Tante Beate gehört hat. Wer seine Kinder nicht impft, begeht Körperverletzung nicht nur an seinem eigenen Kind, sondern auch an allen Kinder drum herum. Nein, Masern sind alles andere als ungefährlich. Nein, Impfungen machen keinen Autismus und ja, das ist sicher bewiesen. Impfungen sind die eine singuläre beste Erfindung der modernen Medizin, verantwortlich für mehr gerettete Leben und erspartes Leid als jede andere Entwicklung.
2. Übertriebene Hygiene ist kontraproduktiv. Wischen Sie die groben Trümmer vom Kind ab – desinfizierende Abwischtücher und Reinigungsmittel sind potentiell gefährlicher Unsinn. Lassen Sie den Kleinen Sand fressen. Sachen zu essen, die auf den Boden gefallen sind, sollte ungefähr mit dem Abschluss der ersten Berufsausbildung vollständig abgewöhnt sein – zumindest in der Öffentlichkeit.
3. Wer in der Schwangerschaft raucht (oder trinkt oder drogiert) oder seine Kinder vollraucht, sollte sich ernsthaft fragen, was bei ihm falsch läuft. Passiv rauchen ist erstaunlich gefährlich. Selbst wenn Sie draußen rauchen – Sie riechen danach und ihr Kind gewöhnt sich sowohl an den Geruch als auch an die Alltäglichkeit der Handlung und hat eine deutlich erhöhte Suchtgefahr. Das Kind ist dieser Grund, nachdem Sie immer gesucht haben, um aufzuhören. Gehen Sie zum Hausarzt, holen Sie sich Nikotin-Pflaster und eine Verhaltenstherapie. Es hat den zusätzlichen Vorteil, dass Sie zehn, zwanzig Jahre länger für ihr Kind da sein können.
4. Kinder brauchen eine vollwertige Ernährung. Ein Kind im Wachstum vegetarisch oder noch deutlich schlimmer vegan zu ernähren, ist Körperverletzung mit Vorsatz. Dies kann ohne weiteres irreversible Schäden insbesondere der Entwicklung von Hirn und Nervensystem nach sich ziehen – wir sehen solche Fälle mit trauriger Regelmäßigkeit in der Klinik. Limonade, Chips und Schokoriegel sind etwas für den Kindergeburtstag oder eine seltene Belohnung, nicht für jeden Tag. Regelmäßig Fast-Food und Lieferpizza sind keine standesgemäße Ernährung für Sie oder Ihre Kinder. Kleine Kinder brauchen keine Diät, wenn sie ein bisschen propper sind. Wenn größere Kinder zu dick werden, ist eine Reduzierung der Einfuhr und Sport angesagt. Fragen Sie Ihren Kinderarzt, ob das Kind zu dick ist, nicht die Hörzu, Tante Inge oder Fremde im Internet (wieder: Ich). Siehe hierzu auch Punkt 6.
5. Der wichtigste Punkt überhaupt, wichtiger als alles andere zusammen: Die größte Grausamkeit, die Eltern ihren Kindern antun können, ist, sie zu verwöhnen, nie nein zu sagen und keine klaren Grenzen aufzuzeigen. Das führt dazu, dass Kinder erwarten, dass ihnen alles zusteht und die Welt ihnen etwas schuldet. Tatsächlich ist die Welt aber voll von Steinen, schlecht stehenden Wänden, Frustrationen und harter Arbeit. Verwöhnte Blagen haben darin keinen Platz und sie gehen allen anderen furchtbar auf die Nerven. Sie werden auch selbst irgendwann sehr unglücklich, wenn sich Erwartungs- und Ergebnishorizont längerfristig nicht decken. Natürlich besteht meine Leserschaft aus einer elitären Auswahl der schönsten und intelligentesten Leute in diesem Land, mit strafferen Brüsten und beeindruckenderen Gemächtern als der breite Durchschnitt – als gute Faustregel gilt, dass Kinder trotzdem doppelt so clever sind und zehnmal so schnell lernen. Was lernen Sie, wenn Nörgeln zum Einknicken führt? Dass Nörgeln ein probates Mittel ist. Was, wenn es jedes Mal etwas extra gibt, wenn der Kleine nicht mag? Dass alle um ihn herumtanzen und man sich mit nichts abfinden muss. Was, wenn die Eltern sauer auf die anderen Kinder, Eltern und Lehrer werden, statt das Kind zu rügen und zum Entschuldigen und besseren Verhalten zu nötigen? Dass jedes Verhalten in Ordnung ist und Demut etwas für die anderen. „Nein“ ist das wichtigste Wort in der Erziehung, nicht „Ja mein Prinz, selbstverständlich mein Zuckerhasipups“.
6. Zu Punkten 4 und 5 ist zu sagen: Es bringt nichts, Kinder zu Essen zu zwingen, das sie nicht mögen oder wollen. Es gibt aber dann auch keine Extrawurst. Wenn der Bub den Spinat nicht will, dann eben nicht. Es gibt aber allenfalls als Ersatz ein Butterbrot, extra kochen für seiner Exzellenz extravagante Geschmacksknospen verbietet sich. Statt zu versuchen, die Kinder zu etwas zu überreden, ist es viel effektiver, es ihnen publikumswirksam vorzuenthalten. Ein „das schmeckt dir sowieso nicht, das ist etwas für Erwachsene“ ist hundert „Ach Schnucki, probier doch den Rauke-Granatapfel-Eintopf, der ist soooo lecker!“ wert.
7. Das gemeinsame abendliche Essen ist mutmaßlich der sinnvollste Kernpunkt eines Familienlebens.
8. Kinder müssen Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit lernen und dass man manchmal unangenehme Dinge tun muss, die dann später zu guten Ergebnissen führen. Dazu gehört, dass sie rennen, klettern, spielen, aus den Augen sind und sich weh tun. Mehr als ein Fahrradhelm ist übertriebene Liebesmüh, es wird Tränen und Pflaster geben, vielleicht bricht mal ein Arm. Alles besser als das behütete Aufwachsen in einer wohl gepolsterten Gummizelle. Geben Sie um Himmelswillen regelmäßig die Kontrolle ab – und damit meine ich nicht an andere möglicherweise kontrollwütige Erwachsene.
9. Kinder sollten lernen, wie sie mit Messern, Feuer und Strom umgehen. Das heißt nicht, dass sie davon fernbleiben, sondern sie selbstständig sicher nutzen können sollen. Ein fertiger Jugendlicher sollte eine Lampe anschließen, eine Steuererklärung machen, kleine Wunden verbinden und sich selbst aus rohen Zutaten einfache Dinge kochen können ohne sich umzubringen. Er sollte wissen, was an seinem Körper dran hängt und was drin ist, was die wichtigsten Dinge sind, die schief laufen können, wie man sie erkennt und wie man dann verfährt. Eine gute Allgemeinbildung und schlagfertige Eloquenz sind bester Freund und größte Waffe jedes Menschen in einer Welt, in der dies den meisten fehlt. Auch wenn das Kind sich so viel erlesen sollte, wie möglich, ist der klassische Vortrag genauso wichtig. So lernt das Kind mehrere vollständige Sätze am Stück und eine lebendige Dialektik. Es ist Ihre Aufgabe, dass die Kinder das lernen, die Schule hilft Ihnen dabei leider nicht. Wenn Sie es selbst nicht können, lernen Sie zusammen undoder suchen Sie die Hilfe von Onkeln, Tanten, Großeltern, Freunden, Bekannten oder netten Männern, die unter Brücken wohnen. Auch Betrug ist erlaubt – if you can’t make it, fake it: Lesen Sie vor dem Essen den Wikipedia-Artikel und tragen Sie dann vor.
10. Apropos Betrug: Sie sind dem Kind gegenüber wie in Punkten 6 und 9 angedeutet keinstenfalls zu fairem Spiel verpflichtet, lediglich zu verlässlichen Linien. Wenn Anthony Bourdain erzählt, wie er in Hörweite seines sich schlafend stellenden Kindes unüberhörbar von den Schandtaten und ekelerregenden Praktiken der bekannten Fastfood-Ketten flüsterte, dann ist das par für diesen Kurs. Die anderen spielen unfair und man selbst sollte gleichziehen. Alle Erziehung ist Manipulation; wer sich dessen bewusst wird, wird effizienter.
11. Unter den vielen befleißigungswürdigen Tätigkeiten für einen Jungmensch steht Musik ganz weit vorne. Es tut eine Blockflöte für die ersten Jahre. Danach soll das Kind selbst entscheiden, je nach Reife ist ungefähr nach der Grundschule ein guter Zeitpunkt zum Umstieg. Direkt an zweiter Stelle steht das Lesen. Aus Büchern und dem Lesen selbst lernt ein junger Mensch Dinge von unschätzbarem Wert über sich selbst und die Welt. Um es mit Oga von Eisenstein zu sagen: „Lest! Sonst seid ihr verloren!“ (Rumo und die Wunder im Dunkeln, Walter Moers)
12. Ansporn zu übertriebenen Leistungen sind erstaunlicherweise meistens für die Endperson selten gut. Leistungssport (gilt in ähnlicher Form auch für anderen Fanatismus, z.B. in Musik, Schach, Ballett) macht den Körper kaputt, nimmt die Zeit für wichtige soziale Verbindungen und für das Lernen in der Breite, das im späteren Leben deutlich wichtiger ist, als auf Landesniveau Kugelstoßen zu können. Ein ewig zu hoher Anspruch an die Kinder ohne sichtbares Lob und Zäsuren erzeugt Menschen mit unstillbarem Ehrgeiz, die nie Zufriedenheit finden. Die Wochenpläne junger Menschen lesen sich teilweise wie die Kalender geschäftiger CEOs. Lassen Sie dem Kind Zeit, seinen Interessen nach zu mäandern – wo sollen sonst innerer Anspruch und Kreativität auch her kommen?
13. Unbedingte Liebe und Wertschätzung abseits der Verwöhnung sind essentiell für jedes Kind. Es sollte nicht die elterliche Anerkennung der wichtigste Antrieb für die geistige und körperliche Weiterentwicklung sein, sondern die Freude an den eigenen Möglichkeiten.
Und nun gehet hin und vermehret euch. Das größte Glück liegt, soviel wird mir glaubhaft versichert, im Auge eines Kindes.
11. Dezember 2018 um 12:58
Wunderbar!
20. Dezember 2018 um 21:24
Isso (2 Kinder)
21. Januar 2019 um 23:01
Großartig – oder vielmehr traurig, dass Du dies aufschreiben musst. Das meiste ist doch gesunder Menschenverstand (wenn man das Privileg einer guten Erziehung genießen durfte)
Lese seit einigen Jahren aufgrund Deiner Leidenschaft für Messer immer mal wieder.
24. Januar 2019 um 13:08
Natürlich ist das alles gesunder Menschenverstand. Und mir schwant, dass man diesen nicht durch einen kleinen Artikel ersetzen kann. Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.